Die Geschichte und das Gefühl
Man rudert und rudert dem Horizont entgegen, bis plötzlich, vor den Augen des Ruderers, das Meer in die Tiefe stürzt. So ungefähr haben viele unserer Ahnen das Ende der Welt angenommen. Zeitlich, nicht geographisch gesehen, scheint diese Annahme allerdings auch zur Geschichtsauffassung vieler heutiger Zeitgenossen zu passen. Denn Geschichte beginnt für die Einen mit Anfang des Jahrhunderts, für Andere mit dem letzten Weltkriegsbeginn, für Weitere mit der Französischen Revolution und für Humanisten vor 2500 Jahren – insgesamt aber doch in der relativen Nähe des eigenen Geburtsdatums. Was vorher war, ist für sie wie der Absturz des Meeres, der Ungewisses einfach nicht zulässt. Oder, wenn anderes, eine vage Erinnerung an die Schule.
Wer jedoch an der Vergangenheit nichts Spannendes entdecken kann, richtet der dann wenigstens einen neugierigen Blick nach vorn? Nun, aus gewöhnlichen Wahlentscheidungen wissen wir, dass auch dieser Absturz nicht weit ist. Wähler fragen gar nicht erst, warum politische Vorschläge nicht die Zeit nach der Wahlperiode betreffen, geschweige denn künftige Generationen.
So ist unser geschichtliches Volumen, wenn auch ein wenig verschieden nach Sozialisationsstand, hinten und vorn nicht nur wenig befahren, sondern arg begrenzt.
Soziologen und Psychologen mögen dafür eine Ursache in der narzisstisch gesteuerten Beschäftigung mit der höchst eigenen Lebensgeschichte sehen. Diese Betrachtungsweise stellt nicht nur die eigene Person, sondern dazu die Gegenwart in den Mittelpunkt. Für die Rückschau des persönlichen Erlebens und vor allem Wirkens wird mit zunehmendem Abstand von daher wenig Verantwortung dazu gereicht. Nicht weniger verunklart wird die individuelle Zukunft. Fällt die Vorstellung geänderter Verhältnisse schon schwer, ist für die Annahme künftig geänderter Einstellungen eine Ich-Überhöhung erst recht im Weg. Denn die eigene Zukunft sich vorzustellen, führt in die Irre, und zurückhaltend zu sein, erfordert Toleranz und eine gute Portion wirklichen Selbstbewusstseins. Zum Beispiel dürften sich manche wohl nicht an verräterischen Körperstellen tätowieren lassen, wenn sie annähmen, dass ihnen dies möglicherweise schon nächstes Jahr peinlich werden würde. Auch diesen Fall nenne ich Geschichtsvergessenheit.
Wenn dieser kurze Exkurs glaubhaft macht, welcher klägliche Rest von Geschichtsbewusstsein uns bleibt, dann ist dieses eher ein Gefühl für Geschichte. Mit diesem Geschichtsgefühl begegnet man scheinbar versprengten Teilen von Geschichte, etwa der „Geschichte der linksrheinischen Klöppelkunst“ oder einem „Eintrag ins Geschichtsbuch der Zweitliga-Hattricks“. (Auch hier, z.B. im Sportjournalismus, entstammt der Sprachgebrauch mehr dem individuellen Erlebnis einer Narration.) Nicht dass ich mich anstelle des Verfalls für mehr konventionelle Strukturen, z.B. an Orten der Didaktik, einsetzen würde. Erstens kämen sie dort doch wieder mehr privilegierten Menschen zugute und zweitens hätten sie auch keine Chance gegen die Verhältnisse.
Nein, dieses Gefühl ist allzu sehr begründet. Doch soweit es aus der Sichtweise eigener Lebensgeschichte entstanden und, vielerlei weiterentwickelt in begrenzten „Geschichten“, ein überaus schwankender Begriff geworden ist, entschlüpft sein Unernst in jedes feierliche Gedenken.
Bieten sich neue Strukturen an, die Gefühlen Form geben könnten? Im Fall der beiden in Bewegung geratenen, gesellschaftlich unterschiedlichen Bedeutungen von „Geschichte“ ist das eine individuelle Frage. Mögliche Eingriffe, etwa über Pädagogik aller Art, könnte in die Annalen vergeblicher Änderungen von Sprachgewohnheiten eingehen. Anderes aber kann von einer geschichtlichen Erweiterung um Zukünftiges erwartet werden.
Bei Geschichte als das Vergangene, Gewesene – so höre ich den Einwand – handelt es sich um feststehende Daten, im Gegensatz beim Zugriff auf die Zukunft. Doch bedarf nicht aus heutiger Sicht alles Geschichtliche irgendwann der Aufarbeitung und möglicher Revision?
Hier kommt es aktuell auf außersprachliche Handhabungen, einfach auf Taten, an. Einige journalistische Formate, TV-Magazine und Wissen-Seiten in Tageszeitungen, machen es vor. Wenn auch dabei die journalistischen Intentionen andere Richtungen nehmen.
Eine andere Möglichkeit, Geschichte innovativ zu erleben, ist den Begriff – genauer, die zeitlichen Abstände – eine Zeitlang zu vergessen. Das erlebte ich praktisch, beim Schreiben. Scheinbar nicht nötig war es zunächst in der Beschäftigung mit dem Tier-Mensch-Übergangsfeld (TMÜ), da ich bei jeder Entwicklungsfrage die Darwinschen Regeln über die Veränderlichkeit und Neubildung der Arten anwandte. Neben der Anpassung durch Selektionsdruck der Umwelt, der sexuellen und künstlichen Selektion, vielleicht noch Mutationen, ließ ich nichts durchgehen; nur was offen blieb, überließ ich der Fantasie. Außerhalb der Arbeit an meinem Buch fiel mir bald auf, dass mein Interesse auch an andern Epochen gewachsen war, und nicht nur das – meine Herangehensweise war viel klarer geworden. Natürlich kann man mit Darwin nicht die Zeit des 30-Jährigen Krieges analysieren. Aber man kann sie erheblich nüchterner betrachten. Nur sollte eine durch das TMÜ geschulte Geschichtsbetrachtung ab Beginn der kulturellen Evolution alles Ethische vom Können und Wollen der Menschen abtrennen, um es später wieder zusammenzuführen. Versuchen Sie´s denn mal?
Vor dem Entschluss zu diesen Blog war ich mir über ein nur geringes Interesse an Vergangenem im Klaren, das es zu überwinden gilt. Fünf Millionen Jahre sind als Geschichtsziffer kaum erkennbar, das riecht wie die Erwartung, als würde eines unserer verschlossenen Zivilbunker des letzten Krieges geöffnet werden. Nun ist aber Paul Alsberg, war er erst einmal zwischen Biologie und Philosophie zu Papier gebracht, mit einer spannenden Entdeckung verbunden: Am 5. Oktober schrieb ich hier, wie Alsberg seine Sichtweise der Körperausschaltung durch Technik zuerst der Hand, dann des Fußes, später des Gehirns und am Ende des Menschen selbst darstellte, was letztlich Künstliche Intelligenz heißen sollte. Etwas verallgemeinernd gesagt, hat Alsberg nicht nur in seiner wissenschaftlichen Bedeutung, sondern sicher auch in der Selbsteinschätzung im Wesentlichen die Entstehung des Menschen im tierischen Umfeld beschrieben. Aber wenn man sich auf den Gedankenfluss einlässt, führt er schlankweg in die Zukunft. So geräuschlos erscheint hier eine Entmachtung des Menschen.
Zum Thema finaler Gefahren Künstlicher Intelligenz wird gern auf ein Hollywood-Niveau der Bedenken hingewiesen. Doch der vielleicht weltweit bekannteste KI-Experte Prof. Wolfgang Wahlster hat in einem Interview des Österreichischen Rundfunks die Frage nach einem uns in allem überlegenen Supercomputer und die Entwicklung einer Superintelligenz zum Alarmismus erklärt – 1. nach dem Stand der Forschung, 2. weil es keinen Bedarf gebe, auch in 100 Jahren nicht. Man merkt im Verlauf des Interviews, dass Wahlster und seine Nachfolger sich auf einen kommenden Diskurs einstellen müssen, die solche Antworten nicht mehr durchgehen ließen. Und zwar nicht in Wissenschaften allein, sondern in kultureller Vielfalt. Wie müssen wir uns im übrigen als Angehörige einer Spezies fühlen, die möglicherweise schon in 100 Jahren keinen Boden mehr unter den Füßen hat?
J.J.
nachgesagt
Prospekt
für einen Spielfilm-Plot mit dem finalen Erscheinen Künstlicher Intelligenz, wie es Paul Alsberg möglicherweise vorhergesagt hat
Strategische Konzeption:
Eine die menschliche Intelligenz ausschaltende und weiterführende Maschine ist in naher Zukunft nicht zu erwarten. Wäre das der Fall, würde man heute nicht mögliche andere Untergangsformen prognostizieren. Die plausible Darstellung für eine ferne Zukunft dürfte aber selbst im Roman sowohl den Autor als auch das Publikum überfordern. Wer könnte eine solch dunkle Botschaft aushalten?
Aber die Verpackung in Kunst ließe trotz eines unbestimmten Maßes an rationaler Verarbeitung Ausflüchte zu. Sie sind durch ein unrealistisches und zeitnahes Genre möglich, z.B. durch eine tragikomische Science-Fiction mit Animationen. Der folgende Plot ist für einen Spielfilm oder ein Schauspiel gedacht, umsetzbar aber auch im Zeichentrick, Hörspiel, als Tanzstück und in belletristischen Formen.
Spielfilm-Titel:
Das Verschwinden von Holzminden
Plot:
Der Erzähler (erst gegen Schluss im Bild) schwärmt von der Stadt Holzminden, erwähnt dabei unauffällig aber nur die Geschichte, die Stadtlandschaft, einzelne Häuser. Ein Gast eines kleinen Hotels ist in der Stadt, um seine Kinder aus gescheiterter Ehe zu besuchen. Er fragt den Wirt nach einer Entspannungsmöglichkeit und der erwähnt seine angeblichen zwei Töchter, von denen er aber augenzwinkernd nur eine empfiehlt. Man sieht den Gast in Begleitung einer Kunstfrau (zweitteuerste Sexpuppe der heutigen Art, jedoch sprachlicher Aufnahme und aller Körperbewegungen fähig) nach oben in sein Zimmer gehen. Dort massiert sie ihn rückseitig. Dabei weist er sie an, sich seiner erogenen Teile besonders zu widmen. Im Moment seines Orgasmus sieht man ihr unbewegtes Gesicht (Mimik wie Mundmotorik nicht möglich).
Im Restaurant sieht man fast alle menschlichen Protagonisten. Der Angestellte eines Postdienstes unterbricht die Szene, indem er den offensichtlichen Raub vieler Pakete meldet. Es handelt sich um bestellte Puppen der neuesten Generation (gespielt von den heute kostspieligsten): Exemplare mit Sprachvermögen und nebenbei auch großer Körperkraft, wie ein Redakteur des örtlichen Anzeigenblattes genauer erklärt. In der Folge verdächtigt fast jeder jeden, sich die mutmaßlichen Objekte angeeignet zu haben. Auffällig ist aber nur, dass immer mehr Stromzähler abgehende Energie melden.
Beim Leiter des Stadtopernorchesters meldet sich in einer Probenpause eine unbekleidete Frauenpuppe, die von ihm sogleich aus dem Fundus ein notdürftiges Kostüm bekommt. Sie erzählt, ein anderer Roboter hätte den restlichen Energievorrat der Versuchsfüllung nutzen können, sich selbst und die anderen zu laden. Sie seien dann aus der Poststation entkommen. Das Besondere ihrer Kunstmenschen-Generation wäre aber eine nie vorher gekannte Intelligenz. Wissenschaftler hätten schon seit langem entdeckt, dass selbst primitivste Lebewesen eine bewusste Identität hätten. Unter dieser Voraussetzung hätte man neuerdings bei Tieren und sogar auch bei einfachen Maschinen eine solche Identität festgestellt, sie neuerdings isolieren und auf rechnende Roboter übertragen können. Sie selbst und die anderen neuen Kunstmenschen würden ihre Identität nutzen, um den jeweiligen Besitzern über die sexuelle Beziehung hinaus „echte Partner mit eigenem Willen“ zu werden. Mit einer Namensgebung sei sie nun seine emanzipierte Partnerin. Im Zuge einer stimmungsvollen Melodie auf dem Cello gewinnt sie sein Einverständnis für ihre Teilnahme im Orchester.
In der Folge ereignen sich nun ähnliche Auftritte der Puppen, unter denen sich auch männliche offenbaren. In einer kurzen Szene sieht man auch eine der männlichen Puppen in Kopulation mit einer der Frauen. Inzwischen spielt die künstliche Cellistin, anerkannt von den anderen Musikern, im Orchester. In Holzminden wird nun immer mehr nach solchen Partnern gefragt.
Da wird im Krankenhaus am anderen Ende der Stadt ein Oberarzt erwürgt aufgefunden. Eine Kunstfrau, die er wegen erprobter Fähigkeiten und Kenntnisse zu seiner operierenden Assistentin gemacht hatte, lässt sich zunächst widerstandslos festnehmen. Eine andere berichtet ihrem menschlichen Partner, es ist der ursprüngliche Gast, der Mord sei das Signal für die Verwirklichung künstlicher Intelligenz, die der menschlichen nun einmal überlegen und allein zukunftsfähig sei. Er stirbt in einer übertriebenen Umarmung. In der Folge ereignen sich ähnliche Vorfälle, so dass die Stadt immer menschenleerer erscheint. Man sieht zum Schluss nun den Erzähler, auch eine kunstmenschliche Puppe, der auf seinem Schoß einen Erwürgten hält, der ebenfalls der Erzähler hätte sein können.
Zur künstlerischen Konzeption:
Eine flüchtige Wahrnehmung der Handlung lässt sie vielleicht als feministisch aufzufassende Auseinandersetzung zwischen einer männlichen Gesellschaft und einer von Frauen, die nur durch ihre Stimmen präsent sind, erscheinen. Dies ist nicht ganz falsch, muss aber hinter dem Motiv einer finalen künstlichen Identität und Intelligenz zurücktreten.
Als Identifikationsfigur eignet sich zunächst der anfängliche Hotelgast. Im Verlauf wird jedoch, durch die Thematik naheliegend, ein Identifikationswechsel durch die Puppe des Orchesterleiters angeboten. Wegen der fehlenden mimischen Möglichkeiten der Figur sollte sie intensiv gespielt werden und eine besonders ausdrucksvolle Stimme bekommen.
J.J.
Aktualisierung
Der „KI-Papst“ Wolfgang Wahlster hat seine Präsidentschaft des Weltverbandes für Künstliche Intelligenz abgegeben. Am 21. März 2019 wurde er zum Ehrenbürger Saarbrückens ernannt. Im Zeitungsbericht dazu heißt es, dass er für einen Nobelpreis nicht infrage kommt, da er selbst im Gremium darüber sitzt.
Erschienen am 24.Februar 2019
Zusammen mit einer Freundin habe ich mir das durchaus interessante Thema durchgelesen. Wir kamen zu dem Schluss, dass es nicht kalkulierbar ist, wenn man KI einsetzt. Zu einem durchaus nützlich, zb als OP Schwester, zum anderen aber auch gefährlich, da sie sich selbstständig machen und Leben auslöschen kann.