Die Sexualität der Vormenschen war kein Ponyhof.
Der Mann eine Züchtung?
Stellen Sie sich einen afrikanischen Baum vor, in dem sich vor Millionen Jahren zu Menschen bestimmte Wesen tummelten, die noch nichts anderes waren als Tiere. Und näher besehen, waren es sämtlich Frauen und Kinder – nur unten am Baum ruhte ein ein riesiger Mann. Ein Patriarchat wie bei Gorillas also? Nein, denn dieser Mann war ein weiblicher Züchtungserfolg. Auf dem Baum hatte er nichts zu suchen außer für den Fall, dass er auf dem untersten, starken Ast Nahrung übergeben oder eine der Frauen kopulieren konnte. (Realer und besserer Anschauung wegen vermeide ich die biologischen Bezeichnungen.)
Dies war das erste der kulturgeschichtlich möglichen Matriarchate, denkbar auf der Folie unseres biowissenschaftlichen Standes nach den Fossilienfunden u.a. des Ardipithecus ramidus genannten Vormenschen. Ihm war ein aufrechter Gang zumindest teilweise möglich, vielleicht wie heute als Baumbewohner einem Gibbon. Doch im Unterschied zu diesem hatte unser Vormensch einen baumfremden Körper, beinbetont, mit nicht ganz so langen Armen. Er muss aus einem evtl. bergigem Milieu vor etwa 5 Millionen Jahren in eines mit schützenden Bäumen geflüchtet sein. Fluchtgrund war seine Eigenschaft, die man in der Philosophischen Anthropologie als „Mängelwesen“ bezeichnet, soweit wir den Begriff mehr wegen seiner Bild- als wegen seiner Prinzipienhaftigkeit bevorzugen. Ihm mangelt es einer kampffähigen Ausstattung etwa mit starkem Rumpf, Reißzähnen usw., und nur bedingt ist es schneller Flucht vor Fressfeinden fähig. Die Bäume in den Wäldern boten bedingte Schutzräume, bedingt deshalb, weil die Gefahr von Abstürzen alltäglich war. Wegen der Verluste an Vormenschenleben waren nur solche Populationen aufrechtzuerhalten, die dem zum Ausgleich eine besonders hohe Geburtenrate entgegensetzen konnten. So entwickelte sich allmählich eine intensive Fortpflanzungskultur, in der das Kind und die Mutter mit unablässigen Geburtsfolgen im Mittelpunkt standen. Diese musste dafür zu einem frühen Zeitpunkt ihre Kindheit abschließen und bis zum Ende ihrer Fruchtbarkeit viele Geburten überstehen. Der Mann hatte dagegen neben den Zeugungen für eine mögliche Sicherheit durch Feindabwehr und Nahrungsbeschaffung zu sorgen. Zur Erziehung der Kinder und zur Geburtshilfe bildete sich nach und nach die Kompetenz von Frauen heraus, die das Ende ihrer Fruchtbarkeit erlebt und ihre Geburtskarriere überlebt hatten. Diese vielfachen Großmütter waren nun nicht nur für die Horde lebenswichtig, sondern hatten in ihr Führungsaufgaben. (Bitte jeden Schritt evolutiv sehen: Nur jene Horde existierte hinfort, bei der…). Vor allem organisierten sie die Beziehungen der Frauen zu den Männern, die vorher durch Zufälle und Beliebigkeiten geprägt waren. Die einfachste Maßnahme bestand darin, dass Knaben frühesten Alters vom Baum verstoßen wurden, die durch ihre Eigenarten, insbesondere ihrem Körperbau, weniger für die genannten Aufgaben in Frage kamen. Die Abgewählten kamen dabei um, wenn sie nicht aussichtslos weiter leben konnten. In anderen Gruppen oder anderen Zeiten können die Altfrauen aber auch die Knaben früh zu Konkurrenzkämpfen in den Bäumen trainiert haben, so dass am Ende der vermeintlich Stärkste den Lohn des Einzigen erwarb. Jedenfalls wurden die ausgewählten Knaben fast von Generation zu Generation immer größer. Ergebnis der mehr oder weniger bewussten Züchtung waren viele meist schwangere Frauen in den Bäumen und eine erheblich kleinere Zahl von Männern, die ihre Aufgaben aber erfüllen konnten, weil sie ihnen körperlich besser gewachsen waren. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung kann man sich den äußeren Unterschied zwischen Frau und Mann etwa wie bei Gorillas vorstellen, was heute immer noch in den durchschnittlichen Größenverhältnissen der Menschen zum Ausdruck kommt.
Ein ganz anderes Größenverhältnis, nämlich das der Penisgröße im Vergleich zum Körper zwischen Menschenmann und allen anderen Säugetiermännchen, sollte ein weiteres Indiz für die Vorzeitzustände sein. Doch auch darin ging der Mann nicht vorweg. Die Penisse gelangten vor allem deshalb schon damals zur heutigen Größe, weil sie sich evolutiv den großen Vaginen anpassen mussten, denn diese wurden durch die pausenlos vielen Geburten immer mehr gefordert d.h. gedehnt.
Unbestritten müsste jedenfalls sein, dass nur ein extrem starker Geschlechtstrieb, der mit dem in heutigen Zuständen nicht vergleichbar ist, die künftig menschliche Art im Baummilieu erhalten konnte. Andererseits musste dies zur neuen Gefahr von Zerstörungen führen: Die Natur schuf die männlichen Geschlechtswerkzeuge nun einmal zum Eindringen und wohl weniger die Vaginen zum Einverleiben. Diese Tatsachen führten im Grunde zur Zusammensetzung einer Horde, in der viele Kinder die Strapazen vor, während und nach der Geburt überlebt hatten wie ebenso wie die Frauen, die Ordnung führenden Großmütter, die wenigen ausgewählten und angeleiteten, von Generation zu Generation größer werdenden Männer und vielleicht noch fünftens Männer der zweiten Wahl. „Chaotisch“ im modernen Sinn war auch der Verkehr mit jungen Mädchen und Knaben sowie zwischen Individuen gleichen Geschlechts. (Lasst uns spinnen: Sollte Sigmund Freund am Ende ontogenetische Zustände mit Bedingungen seiner Urhorde verwechselt haben?)
Wenn man einen Schlüssel zur Entstehung des Erotischen im Menschen sucht, könnte er darin bestehen, dass sich hier freier Impuls und erzwungene Handlung nicht gegenseitig ausschließen.
Gibt es möglicherweise eine Ahnung, einen weiteren Fingerzeig für eine Unterwerfung unserer männlichen Urahnen? Während heute häufig über Gewalttätigkeiten gegen Frauen in Paarbeziehungen berichtet wird, werden solche gegen Männer eher zurückgehalten, meist wohl aus Scham. Doch wenn Alltägliches einbezogen wird – seien es ausufernde Streitigkeiten oder auch nur spielerisch gemeinte – fällt eine deutlich passive Rolle des Mannes unterhalb eines Verteidigenkönnens auf. „Man schlägt eben eine Frau nicht“, würde er vielleicht später sagen. Aber diese Starre ist mehr als das Ergebnis einer moralischen Reflexion, also eines Vorgangs mit Beteiligung spätentwickelter Hirnregionen. Sie unterscheidet sich z.B. von der schnellen Verhaltensänderung, mit der ein Erwachsener reagieren würde, sollte er, anfangs vielleicht auch im Spiel, von einem Kind angegriffen werden. Sie ermöglicht in diesem Rahmen Gewalt und ist eventuell mit jener rätselhaften Passivität vergleichbar, mit der nach Erzählungen oft Verurteilte einer Exekution entgegensahen.
Die wesentliche „Triebfeder“ der Entstehung der Matriarchate war der unermessliche Bedarf an Schutz und Hilfe für die Baumbewohner in ihrer Not. Zu den Gefahren für die dem Baum nicht angepassten Körper kamen die knappen Fressressourcen. Auch mögen weitere Rivalitäten bei Männern und Knaben eine Rolle in der Bildung solcher Horden gespielt haben wie auch, bei Geburten, der gewachsene Erfahrungsschatz älterer Frauen. Tief in dieser frühesten Menschengesellschaft mag der über das Primatenprinzip „Sex gegen Nahrung“ hinausgehende moderne (Vulgär-)Materialismus entstanden sein. So ungewohnt das Gesamtbild erscheint, entsteht es doch in einzeln logischen Schritten evolutiver Betrachtungsweise. Ständig frage ich mich, welche andere Existenzlösung für ein Mängelwesen Vormensch im Habitat des afrikanischen Regenwaldes möglicherweise wahrscheinlicher war. Ergibt sich eine derartige andere Lösung nicht, müsste die oben stehende angenommen werden, auch wenn sie bisherige Annahmen verfremdet. Dieser Wald ist nichts für Ockhams Rasiermesser.
J.J.
nachgesagt
Kann man ein derartiges Szenario belletristisch, filmisch oder zeichnerisch umsetzen – also sprachlos?
Sibylle Knauss (Romane „Eden“ und „Fremdling“) ist der Sprachlosigkeit als Hauptproblem bei der Umsetzung urgeschichtlicher Interaktionen vor allem mit fehlenden Anführungszeichen begegnet. Dies ist ohnehin eines ihrer Stilmittel. Wenn eine direkte Rede nicht durch diese Zeichen verdeutlicht wird, nimmt man das Buch vielleicht nicht umgehend an, aber es ist jedenfalls eine Möglichkeit, die Rezeption zu verlangsamen und zu vertiefen. Für belletristische Darstellungen von Urszenen schlage ich diese Erzählweise auch bei Texten vor, die keinen so hohen Literaturanspruch haben. Sie wäre dann ein Stilmerkmal des Genres. Verbinden könnte man dies mit dem Hinweis, dass sich die menschliche Sprache noch nicht entwickelt hatte. Dass aber Kommunikation vieler anderer Art in der Luft lag, könnte auch in einem Real- oder Zeichentrickfilm zum Ausdruck kommen. Die Figuren nun sprechen zu lassen, wäre Disney-Niveau. Wie wäre es, stattdessen das Gesprochene, Geflüsterte und Geschriene durch nicht allzu dominierende Untertitelung mitlaufen zu lassen?
Das Fremde, das uns andere, verstehen wir am besten im evolutiven Zeitraffer. Für Zeitraffer brauchen wir Bilder, Bilder.
J.J.
Veröffentlicht: 9. Oktober 2018
Hallo,
leider ist der Ig-Nobelpreis für Anthropologie für dieses Jahr schon vergeben. (Schimpansen sollen Menschen genauso viel und gut imitieren wie umgekehrt.) Da hast du keine Chance mehr mit deiner Behauptung früher haben Frauen ihre Männer gezüchtet.
Es ist eben begründete Spekulation, nicht mehr und nicht weniger.
Es spricht nichts für und vieles gegen die Annahme eines Matriarchats auf irgendeiner Stufe der menschlichen Evolution. Unsere Vorfahren waren auch nie Mängelwesen, sondern – zumindest bis zum Auftreten des Homo sapiens – immer adaptiert. Das philosophische Konstrukt des Mängelwesens gehört eindeutig ins Reich der Entstehungsmythen – nicht in den Bereich begründeter, wissenschaftlicher Spekulation. Der menschliche Körperbau ermöglicht beim Werfen eine Relativgeschwindigkeit zwischen Rumpf und Wurfhand, die den entsprechenden Wert zwischen Rumpf und Pfote beim Sprint des Geparden um 40% übersteigt. Das erfordert einen stringent durchoptimierten Körperbau. Erst beim Homo sapiens machen sich degenerative biologische Entwicklungen infolge der Dominanz der Kultur bemerkbar. Das Körperausschaltungsprinzip hat wenig mit unserer Vergangenheit zu tun, könnte aber von Interesse für Gegenwart und Zukunft sein.
Okay – kann man alles so sehen. Richtig neu ist das aber auch nicht, wie ich an zwei selbstverfassten und vorigen Jahrtausend veröffentlichten Romanen nachweisen kann:
1.) „Der Pflanzen Heiland“ mit einem Baum/Mann-Klon >>> http://trpm.de/12-sf-romane/der-pflanzen-heiland/
und
2.) „Inanna -Odyssee einer Göttin“, in Ichform als Frau im Neolithikum erzählt mit Catal Hüyik als „Stadt der Frauen“ >>> http://trpm.de/historisches/inanna/
Wenn es um SF-Literatur geht, kenne ich mich nicht aus, eher schon mit z.B. Texten von Benn, der gemeint hat, dass „ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette“. Das trifft dann wohl auch auf Ihr Metier zu, von dem ich annehme, dass durch den Tier-Mensch-Übergang ein neuer Gestaltungsraum entstehen kann. Falls Sie nun anthropologische Ideen vorweggenommen haben, lagen sie einfach schon in der Luft. Ich bin ohnehin der Ansicht, dass individuelle Leistungen nicht nur in der Wissenschaft vom Narzissmus des Zeitgeistes überschätzt werden. (Aber die beiden unterschiedlichen Kommentare hier – von Mielke und von Kirschmann – kommen mir wie gerufen, weil nichts besser die Position dieses Blogs zwischen den Blöcken beschreiben kann. Thomas R.P . Mielke verkörpert die oft des Eskapismus verdächtige Kunst, die mit Wissenschaft nur gemein hat, dass sie irgendwo noch einen Bezug zur Realität haben muss. Nach Wikipedia bedeuten die beiden mittleren Buchstaben seines Namens „Reine Phantasie“. Eduard Kirschmann lässt keine Realität ohne eine a`la Popper geschulte Beweisführung zu. Er könnte R.W . dazwischen setzen. Die Menschenerzählung tut sich auf, wenn eines Tages beides zusammenkommt.)