Paul Alsberg, Mensch zwischen den Stühlen
Was bewog Paul Alsberg 4 Jahre vor Erscheinen seines „Menschheitsrätsel“, einen Artikel über die Beziehung zwischen Homunkulus und seinem Schöpfer in Faust II zu schreiben? Er sah die Zeit für gekommen, wenige Generationen nach Darwin und auch nach Goethe im biologischen Umfeld des Tieres den Menschenbeginn vom Menschen selbst, also als biologisch gesehen höchst Künstliches, vorstellen zu lassen.
In diesem Sinne ist es große Kunst, tierisches Verhalten zu deuten, ohne menschliches Gefühl zur Hilfe zu nehmen. Solches Gefühl fällt dem Menschen allzu leicht zu, wenn er, abgesehen von Situationen der Angst, ein Tier erblickt. Wir nennen es Projektion. Der projizierende Menschensinn hat es fertiggebracht, den Wolf nach seiner Domestikation zu gegenseitigem Nutzen allmählich zu einem kindmenschlichen Wesen zu machen.
Und für den projizierenden Menschen selbst: – kein Tier ohne menschliche Blicke, Gesten und Gewohnheiten zeichnen zu können. Wie sollte da ausnahmsweise ein Philosoph den historischen Wechsel zwischen Tier und Mensch beschreiben, wo es doch galt, die mangelnde Kampfausstattung durch irgendetwas zu überwinden? Dies gelang durch rationale Kompensation, meinten eben manche und projizierten damit ein Verhalten, das jeden kreativen Menschen den lieben langen Tag bewegt.
Paul Alsberg, Arzt und Bakteriologe, wollte schon in „Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung“, das 1922 in Dresden erschien, als Philosoph die Naturwissenschaft nicht aufgeben. Wenn evtl. ein anderer Philosoph versuchte, sich in die Lage einer Ameise hineinzuversetzen, sah Alsberg das Treiben der Tiere eher in biologischer Draufsicht – und unter dieser Voraussetzung den Menschen als Besonderheit. Je deutlicher er Unterschiede zwischen Menschenaffe und Mensch sah und herausstellte, umso notwendiger war ihm für dieses Wesen ein Naturprinzip, das den Wechsel begründete und überdauerte. Er fand es im „Fluchtprinzip“, das auch schon nach den damaligen Fossilienfunden das Wesen lange vorher anatomisch ausgezeichnet hatte und es z.B. vom Gorilla unterschied. Alsberg verortete den zur Flucht tendierenden Vormenschen mit seinen zum Klettern geeigneten Beinen in ein geröllartiges Habitat. (Aktuell müsste sich dieses Verhalten Bäumen anpassen.) Die entscheidende Wende zum Menschen wurde mit der Benutzung von Steinen als Wurfgeschosse beschrieben, wobei zunächst eine der seltenen Regressionen in das noch ältere Kampfprinzip schließlich vom Fluchtprinzip abgelöst wurde: Das Werfen von Steinen gegen Fressfeinde ist wegen der angestrebten Distanz nichts anderes als Flucht. Distanz ist ohnehin aus Alsbergs Entwicklungstheorie nicht wegzudenken, denn sein bekanntes Prinzip der Körperausschaltung bedeutet. eine fortwährende Distanzierung vom Menschenkörper.
Hans Blumenberg, der dies im Gegensatz zu anderen philosophischen Anthropologen ernst nahm, prägte den Begriff „Actio per distans“.

Von Paul Alsberg war beim besten Willen kein Foto zu bekommen. Aber dies ist die Titelseite meines Menschheitsrätsel-Exemplars von 1922. Hinter Klostermauern entging es wohl den Bücherverbrennungen.
Das Wort Fluchtprinzip erscheint bei Alsberg selbst, gemessen am Gewicht in seiner Theorie, nur wenig in dem Buch.. Das ist leicht nachzuvollziehen. Während man in Physik und Chemie flüchtige Körper oder Stoffe emotionsfrei zur Kenntnis nimmt und in der Zoologie den Hasen, Hirschen und Pferden ebenso das Flüchten oder Fliehen zubilligt, wurde das Wort Flüchten beim Menschen zum Inbegriff von Feigheit und Würdelosigkeit. Dazu muss man nicht erst die aktuellen Zeitläufte bemühen. Wer z.B. als Geflüchteter diesen gehetzten und höchst erbärmlichen Eindruck hinterlässt, gleichgültig aus wessen Gewahrsam er entfloh, ist bestenfalls in jener Reihe gefallener Krieger zu finden, deren Fluchtwunden sich am Rücken verraten.
Soweit Alsberg den Menschen statt mit dem Prinzip des Kampfes mit dem der Flucht verband, geriet er jedoch nach außen in Konflikt mit seinem Menschenbild. Dieses war durchaus vorgefasst: War es zwar auf naturwissenschaftliche Grundlagen eingeschworen, missfiel ihm gleichwie die Zuordnung des Menschen als Tier unter Tieren. Er pochte auf die Ausnahme in der Natur, und das Sophokles so zugeschriebene Wort „Viele gibt es der Wunder – kein größeres als den Menschen“ ist seinem Werk gleich einer sinfonischen Fanfare vorangestellt. Jedenfalls liest sich als Bewunderung, was bei Alsberg anfangs nur eine Alleinstellung war. Und dieses hehre Bild, von dem anzunehmen ist, dass es von ihm in innerer Öffentlichkeit immer wieder herausgeputzt wurde, sollte mit den Attributen der Flucht vulgo des Aufgebens versehen werden? Hier war die Theorie nicht deutlich genug.
Hingegen ist diese Philosophie im Jahrhundert-Aufbruch später durch das Prinzip der Körperausschaltung bekannt geworden. Es geht um den Körper, der dem Tier als Lebensanpassung, aber dem Menschen als eine Art Sprungbrett für die Weiterentwicklung dient. Im stammesgeschichtlich frühen Zustand waren es Werkzeuge, zuerst aus Stein, die den Körper „ausschalteten“. „Der Blick, der einem geworfenen Stein nachschaut, ist die erste Form der Theorie“, formuliert dazu Sloterdijk. Dem Stein folgten immer geeignetere Werkzeuge als künstliche, außerkörperliche Mittel, des Weiteren ihre Handhabungen. „Mit jedem Handwerkszeug“, schrieb Alsberg, „schalten wir die Hand, mit dem Kraftwagen den Fuß, mit der Additionsmaschine das Gehirn aus usw. Ja, das Ideal des modernen Ingenieurs wäre eine Maschine, die den Menschen völlig ausschaltet.“ (Womit Alsberg vor 96 Jahren Künstliche Intelligenz – und diese auch noch „stark“ und in der aktiven Dimension – voraussagt, was anscheinend bisher niemandem aufgefallen ist.) Auch auf andere Entitäten will er die Körperausschaltung angewendet wissen, auf die den Instinkt ablösende Bewusstheit, auf Vernunft, Sprache, Begriffsbildung – für das Prinzip ebenfalls Werkzeuge.
„Das Menschheitsrätsel“ gibt es in drei Versionen, deren Unterschiede selten beachtet werden. 1922 erschien es auf 522 Seiten im Dresdner Sybillen-Verlag. Mit den insgesamt positiven Rezensionen war Alsberg gleichwohl nicht zufrieden, und in eigenen Artikeln folgender Jahre betonte er vor allem den Vorrang (und übrigens auch „das letzte Wort“) der Naturwissenschaft vor aller Metaphysik. Das Buch wird in Berichten zu den Bücher-verbrennungen in 1933 genannt. 1934 wurde der Jude Alsberg in ein KZ verbracht, später offenbar mit amerikanischer Hilfe entlassen, wonach er sich in England als Arzt niederließ. 1937 erschien der Titel mit dem neuen Zweittitel „Versuch einer biologischen Lösung“ im Sensen-Verlag in Wien auf 212 Seiten. Er ist im Web kostenlos (bitte nicht zu früh klicken!) zu haben unter vordenker.de/alsberg/p-alsberg_menschheitsraetsel.pdf. Gegenüber dem ursprünglichen Werk ist er im vorgeblichen Bemühen um Allgemeinverständlichkeit vor allem stark gekürzt. Soweit dies die biologische Vorgeschichte betraf und Alsberg Fehlerangst wegen immer neuerer Funde hatte, sägte er möglicherweise am eigenen Ast biologischer Begründungsweise. Das Buch war nun dem neuen biologischen Stand angeglichen, jedoch auch einem veränderten Stand seines Autors. So fehlt (auf S. 62 von Vordenker) zum Beispiel der letzte, pointierende Satz des eben erwähnten Zitats aus 1922/S. 123. Während nun die ersten beiden Versionen des „Menschheitsrätsel“ noch verwechslungsfähig sind, fehlte der letzten, dem englischen Titel „In quest of man. A biological appraoch to the problem of man´s place in nature“, zwei Jahre nach Alsbergs Tod 1967 in London erschienen, die alte unmittelbare Wirkung. In dieser naturwissenschaftlich vielleicht angemessenen Form sucht man vergeblich einen adäquaten Begriff für Körperausschaltung.
In das Schaufenster der „deutschen“ Anthropologie wird oft die Frage gestellt, ob (nach Alsberg) der Körper in der Folge etwa gefundener Steine seine mäßigen ureigenen Wehrfähigkeiten, die er nun nicht mehr benötigte, verloren hatte oder ob (nach anderen) dieser Mangel, umgekehrt, die Ursache für Kompensation durch Ratio war. Diese Alternative halte ich für irreführend. Das kompensierende Mängelwesen findet man mit guter Empathie irgendwo in der Dimension Bewusst/Unbewusst. Die Körperausschaltung ist dagegen dieser Weise nicht zugänglich. Dieser Begriff, der Aspekte der Entwicklung und Finalität zusammenfasst, beherrscht sich mit religionsähnlichem Determinismus. Automatismus, Zwangsläufigkeit. Der Begriff entstand nach biologischen Vorfassungen und lässt uns auch später in deren Passivität zurück.
Es gibt ein Sowohl-als-auch, nur ist es möglicherweise fächerübergreifend.
Da wir uns inzwischen kulturell dem Körper als Thema zunehmend angenähert haben, und zwar nicht nur in hedonistischen und medizinischen Zusammenhängen, können wir alle von Alsberg postulierten Abstraktionen bzw. Werkzeuge schlicht als Körpererweiterungen auffassen. Hat denn nicht er selbst neben einer Ausschaltung des Körpers dessen werkzeugbedingte Verwandlung gemeint, zuerst in einen anderen Fuß, dann in eine andere Hand, zum Schluss in einen anderen Kopf? Dabei, wenn auch von ihm nicht thematisiert, ändert sich das Subjekt nicht, es verbleibt seinem nunmehr potenzierten und damit neuen Körper.
Zu solchen Gedanken fühlte ich mich durch die Streichung des erwähnten Satzes mit 14 Wörtern geradezu eingeladen. In der gesamten Dynamik des Vorgangs erzählt dieser Streichakt mehr als hätte Alsberg 1922 lediglich von einer Maschine gesprochen, die vom Subjekt Mensch endgültig gelöst wird. Und dieser Mensch scheitert in seinem Heroismus wie ein Speerwerfer, der im Moment des Abwurfs durch die Fliehkräfte seine Grenzlinie nicht halten kann. 1937 hat Alsberg den Satz gestrichen und im Rückblick dafür einen „unsicheren Boden spekulativer Konstruktionen“ erwähnt. Er ist aber bei aller wissenschaftlichen Legitimität seiner ursprünglichen Neigung zu „Metaphysischem“, genauer seiner Neugier auf das Projekt des Kunstmenschen, untreu geworden.
Entgegen einschlägiger Eintragungen handelt es sich bei den Titeln von 1922, 1937 und 1965 um drei eigenständige Werke, als wären sie von unterschiedlichen Verfassern geschrieben. Sie dokumentieren aber die kontrastreiche Entwicklung eines einzelnen. Kommen wir nunmehr mit dem Wissen über Haltungen, die der Entwicklung Alsbergs zum Opfer fallen mussten, zurück zum Ur-Alsberg. Sein Buch lebt von der Spannung zwischen biologischem Bedacht und kreativem Wagnis. Er hatte dem damaligen, wohl überwiegend noch heute gültigen naturwissenschaftlichen Fundus die Erkenntnis abgewinnen können, dass der menschengebärende Affe im Gegensatz etwa zu den mit Eckzähnen bewaffneten Primaten ein Fluchttier gewesen sei. Aufgefundene Steine verhalfen diesem zur optimierten Flucht in der Form der Distanzierung durch Werfen. Hier sind wir im modernen Diskurs über den Menschen. Jedenfalls standen ihm von da an in Übereinstimmung mit weiteren Denkern immer mehr Fluchtwege offen, selbst beim Anblick des Todes. Jeder Mensch ein Flüchtling, das wär doch was für die aktuelle Debatte.
J.J.
P.S. Ein Beweggrund, den besagten Satz zu streichen, war für Alsberg in 1937 vermutlich auch, als verfemter Autor zeitgenössische Techniker nicht provozieren zu wollen.
Veröffentlicht: 9. Oktober 2018
Ein bewaffneter Homonine, der sich dem Angreifer stellt, ist kein Fluchttier, sondern ein Tier das auf die entgegengesetzte Strategie, die Verteidigung setzt. Die Australopithecinen gingen aus Menschenaffen hervor, die bei der Erweiterung ihres Lebensraums auf den Erdboden im Gegensatz zu Tieraffen der Verteidigung klaren Vorzug vor der Flucht gaben. Gründe für diese unterschiedlichen Anpassungsrichtungen von Menschen- und Tieraffen waren nicht irgendwelche Erfindungen – unsere Vorfahren haben den Einsatz von Stöcken und Wurfgeschossen in dieser Situation nicht erfunden, beide Waffengattungen sind bei vielen Affen zu beobachten und gehören wohl seit „jeher“ zum Verhaltensrepertoire von Primaten, denen ihre Greifhände den Einsatz von Waffen nahelegen. Baumlebende Menschenaffen sind jedoch im Vergleich zu Tieraffen größer und bewegen sich in den Wipfeln mit aufrecht orientierter Wirbelsäule. Diese beiden Anatomischen Unterschiede sorgten dafür, dass sich für Tieraffen am Boden die schnelle, vierfüßige Flucht eher auszahlte und falls es doch zum Kampf kam, dann dienten vor allem die Zähne der Verteidigung. Gleichzeitig kamen Menschenaffen eher davon, wenn sie sich auf zwei Beinen mit einer Waffe in der Hand zur Wehr setzten – dies führte zur Entwicklung der Australopithecinen. Zu Fluchttieren wurden Australopithecinen erst in dem Augenblick, in dem sie ihre Waffen fallen ließen, um sich auf einem Baum in Sicherheit zu bringen. Anatomisch waren Australopithecinen ein Kompromiss, der sowohl ein hohes Leistungsniveau beim Einsatz handgeführter Waffen als auch ein schnelles Erklettern von Bäumen ermöglichte. Für eine schnelle Flucht am Boden waren Australopithecinen anatomisch nicht geeignet. Mit dem Homo erectus entwickelte sich anschließend ein körperlich für das Werfen optimierter Primat, der keinerlei Zugeständnisse mehr an die Fähigkeit machte schnell auf einen Baum zu kommen. Am Boden war er unter Einsatz seiner Waffen längst zum Angriff übergegangen, nun waren es all die anderen Tiere, die vor ihm flohen. Der Mensch ist definitiv kein Fluchttier. Und er ist aus biologischer Sicht nicht hilflos und unangepasst, sondern eine optimierte Kampfmaschine, die so gut funktioniert, dass sie weder Fell noch lange Eckzähne noch schnelle Fluchtoptionen benötigt.
Da gibt es das Tier-Mensch-Übergangsfeld und dort die Entwicklungslinie des Australopithecus
zum Homo sapiens und hier, in anderer Dimension, Biologie und, unklar entfernt, Philosophie.
Warum müssen Sie denn unbedingt mit Ihrer Werfer-Theorie zu wirklich allem irgendeine Beziehung setzen, wo es doch erfolgversprechender ist, die Dinge erst einmal stehen zu sehen? Die Energie finde ich für eine bearbeitete Neuauflage Ihres Buches eher angebracht. Der Zungenschlag gegen Philosophisches hilft im übrigen dem wohl akademisch kaum aufzuklärenden Gegensatzpaar Biologie/Philosophie, das Alsbergs Leben bestimmt hat, nicht weiter. Aber danke fürs Kommentieren, auch unter „Züchtung“. (Eduard Kirschmann ist Verfasser des u.a. von Sloterdijk in Sphären zitierten 1999 selbstpublizierten Buches Das Zeitalter der Werfer – eine neue Sicht des Menschen. Siehe unter http://werfer.de/ )